Gewaltopfer sind weiblich

25.11.2009 | 17:31 | Ana Tajder und Kerstin Kellermann

Weltweit sterben mehr Frauen durch Gewalt als durch Krebs und Kriege. Daran erinnern die „Tage der Gewalt gegen Frauen“. In Österreich sind Migrantinnen, die erst seit kurzer Zeit im Land leben, besonders betroffen.

Sie wusste nichts über ihre Rechte. Das führte dazu, dass es Dilek sieben Jahre lang mit ihrem gewalttätigen Ehemann aushalten musste. Dilek wurde mit 16 Jahren aus einem türkischen Dorf nach Wien verheiratet. Ihr Mann schlug sie und den kleinen Sohn. In ihrer Verzweiflung hatte sie auch schon an Selbstmord gedacht; die Kinder wollte sie „mitnehmen“.

Heute, Mittwoch, ist der „Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen“. Es heißt zwar „Tag“, aber bis zum 10.Dezember (dem Internationalen Tag der Menschenrechte) sind es 16 Tage. Über 800 Fraueninitiativen aus der ganzen Welt nützen diese Tage, um auf das Recht auf ein gewaltfreies Leben aufmerksam zu machen. Für einen einzigen Gedenktag ist das Problem zu groß. Denn die Gewalt gegen Frauen ist heute die meistverbreitete Verletzung der Menschenrechte.

Laut Unifem (United Nations Development Fund for Women) hat die Gewalt an Frauen „pandemische Proportionen“. Bis zu zwei Drittel aller Frauen erleben physische oder sexuelle Gewalt durch Männer, die meisten davon durch ihre Ehemänner, Partner oder Bekannten. Mehr Frauen im Alter zwischen 15 und 44 sterben durch Gewalttaten als durch Krebs, Malaria, Verkehrsunfälle und Kriege zusammen. Die Gewalt hat viele Gesichter: Mord, Mädchenhandel, häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung.

Frauenhäuser: Mehr Migrantinnen

Dilek entdeckte erst durch die Unterstützung einer Bekannten die Beratungsstelle „Orient Express“. Der Wiener Verein betreut Frauen aus der Türkei und arabischen Ländern. Durch deren Hilfe konnte Dilek einen Platz im „Frauenheim“ bekommen. Nun möchte Dilek anderen betroffenen Frauen helfen. „Jetzt gibt es schon die Notrufnummer und Informationen auf Türkisch in der U-Bahn“, freut sich die junge Frau. „Wenn ich heute Frauen im Park als Gewaltopfer einschätze, rede ich mit ihnen.“ Dilek ermutigt Frauen, die wegen gewalttätiger Männer eine Scheidung überlegen. Beispielsweise so: „Du musst es schaffen. Es geht um dein Leben, und man kann auch ohne Mann leben.“

„Mittlerweile bringt Dilek uns Klientinnen“, sagt Betreuerin Tamar Citak von der Wiener Interventionsstelle. Von Gewalt betroffene Frauen werden von der Polizei hierher geschickt. „In den Frauenhäusern leben überproportional viele Migrantinnen ohne Ressourcen.“ Österreicherinnen hätten die Möglichkeit, zu Eltern oder Freunden zu ziehen, wenn es Probleme mit dem Partner gibt. Migrantinnen hätten diese Chance oft nicht. Statistisch gesehen entspräche die Zahl der von Gewalt betroffenen Migrantinnen ihrem Bevölkerungsanteil, „aber in Bezug auf Mord sind sie besonders gefährdet. Zwei Drittel aller ermordeten Frauen lebten noch nicht lange in Österreich.“

Gewalttätige Männer wollen es oft nicht wahrhaben, dass ihre Frau sich tatsächlich traut, sich zu trennen, oder sie Möglichkeiten hat, sich dabei unterstützen zu lassen, sagt Citak. Auch der Aspekt einer psychischen Erkrankung, die unter Umständen für die Gewalt mitverantwortlich sein kann, kommt oft zu kurz: Weil Migranten wegen psychischer Probleme oft nicht zum Arzt gehen, können Erkrankungen nicht diagnostiziert werden. „Und Zentren wie der Psychosoziale Dienst bieten kaum muttersprachliche Unterstützung an.“ Die Krankheit falle oft erst vor Gericht auf – wenn es schon zu spät ist.

„Das Problem ist, dass es Migration nach Österreich mittlerweile nur noch über Familienzusammenführung gibt“, so Citak. Nachfolgende Angehörige wären die ersten fünf Jahre vollkommen abhängig von der „Ankerperson“, also dem Ehemann oder Vater.

Novelle ab Januar 2010

Das soll sich ab 2010 ändern: Wenn Opfer mit unter fünf Jahren Aufenthalt in Österreich familiäre Gewalt nachweisen können, erhalten sie eine befristete Niederlassungsbewilligung für ein Jahr. Diese Novelle des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes tritt ab Jänner in Kraft. Voraussetzung für die Frauen ist, dass sie Arbeit finden, Deutschkenntnisse sowie eine ortsübliche Unterkunft nachweisen können. Dennoch: Für Frauen, die weiterhin vom Ehemann bedroht und verfolgt werden, ist das schwer zu erfüllen.

In Österreich wurden laut des Reports von Wave (Women Against Violence Europe), einem in Wien basierten europäischen Netzwerk von 4000 Hilfseinrichtungen, im Vorjahr 14.016 Personen aufgrund häuslicher Gewalt betreut. Diese hohe Zahl lässt sich auch auf die Finanzkrise zurückführen: In Ausnahmesituationen steigt der Druck in Familien und damit die Bereitschaft zu Gewalt, was zu mehr Betrieb in den landesweit neun Interventions- und sechs Beratungsstellen geführt hat.

Seit 28 Jahren wird weltweit zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen wie Dilek aufgerufen. Sie selbst schaffte es auch: Nach zehn Jahren im Reinigungsdienst eines Hotels ist sie in der Hierarchie aufgestiegen. Nun stellt sie selber zwei Mütter aus dem Frauenhaus an.

(KERSTIN KELLERMANN UND ANA TAJDER)

„Die Presse“, Print-Ausgabe, 25.11.2009


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