Haitianer bangen um ihre Verwandten

  • Haitianer: 52Menschen mit Geburtsort Haiti leben laut Statistik Austria in Österreich. Acht davon haben die österreichische Staatsbürgerschaft.
  • Bangen: Die haitianische Community sucht nach Informationen über ihre Angehörigen in Haiti. Da Telefone auf der Karibikinsel kaum funktionieren, herrscht große Unsicherheit.
  • Hilfe: Die haitianische Honorarkonsulin bittet in Haiti geborene Menschen, sich bei der diplomatischen Vertretung zu melden, um Informationen und Namen weiterzugeben.
  • Websuche: Das ICRC (International Committee of the Red Cross) hat eine Website zur Suche nach Angehörigen eingerichtet: www.icrc.org/familylinks

20.01.2010 | 18:18 | Ania Haar

Nach dem verheerenden Erdbeben wissen viele der Haitianer in Österreich noch immer nicht, wie es um ihre Angehörigen steht. Über ein Netzwerk der Haitianer wollen sie nun an Informationen gelangen.

„Es ist gerade eine E-Mail von der Lisa gekommen“, ruft Chris Hildebrandt seiner Frau zu. „Was schreibt sie?“, fragt sie. Ihr Mann liest schnell die Nachricht und erzählt, wer noch lebt, wer tot ist und von wem noch keine Nachrichten da sind.

Marthe Micheline Hildebrandt kam Anfang der Neunzigerjahre als Kindermädchen von Haiti nach Wien, um sich genau um jene Lisa, selbst Tochter einer haitianischen Mutter, zu kümmern. „Ich war kein junges Kindermädchen mehr“, sagt sie, „schon 27Jahre alt, und Lisa war damals 13“. Die Gastfamilie besorgte ihr die nötigen Papiere. Jetzt sitzt Lisa in New York und versorgt ihr ehemaliges Kindermädchen mit den neuesten Nachrichten aus ihrer alten Heimat – alle sind untereinander vernetzt. „Ich muss unbedingt meine haitianische Freundin anrufen und ihr das erzählen“, sagt Hildebrandt aufgeregt.

Die meisten Haitianer in Wien kennen einander gut. „Wir kochen manchmal gemeinsam“, sagt sie, mittlerweile bekommt man dafür sogar haitianische Zutaten – ein Lebensmittelmarkt in Wien-Neubau hat sich in den letzten Jahren auf internationale Lebensmittel spezialisiert. Ab und zu bekommt man hier sogar Dion-dion – haitianische schwarze Pilze.

Kleine Community

Eine Erinnerung an die alte Heimat. So wie auch das Ölgemälde in ihrer Wohnung, vor dem sie nun steht: Haitianische Frauen in bunten Röcken sitzen am Boden und machen Geschäfte.

Von dem Erdbeben hat die gebürtige Haitianerin aus dem Fernsehen erfahren. Es war Dienstag nach Mitternacht, auf RTL kam eine kurze Meldung. „Ich war schockiert.“ Sie schaltete auf einen amerikanischen Sender um und sah die Bilder, konnte die ganze Nacht über kaum schlafen. Wie geht es ihrer Familie? Leben sie noch, oder sind sie schon tot? Aus Carrefour, der zweitgrößten Stadt in Haiti, wo die Familie zuletzt wohnte, erfährt man nicht viel, sagt sie. Bis heute ist das so geblieben. „Mir geht es nicht gut.“

Da viele Sendemasten beim Beben zerstört worden sind, bleiben Handyanrufe unbeantwortet. Die Masten, die es noch gibt, sind völlig überlastet. Doch manchmal schafft es doch jemand, mit einem Anruf durchzukommen.

Lisa ist eine von ihnen: Sie hat von New York aus eine Verbindung zustande gebracht – für sechs Sekunden. Genug Zeit, um zu erfahren, dass ihre Mutter noch lebt. Viel mehr konnte sie in der kurzen Zeit nicht erfahren, doch tröpfchenweise kommen Informationen von verschiedenen Seiten zusammen – jede Information wird über die haitianische Community weltweit weiterverbreitet. Wenn Freunde Bekannte sehen, wird weitererzählt, wer wen gesehen hat. Und auch das Internet macht es leichter, sich untereinander zu vernetzen und Nachrichten weiterzugeben. Das ICRC (International Committee of the Red Cross) hat eine Website zur Verfügung gestellt, auf der man seine Suche aufgeben kann. Für die, die keinen Internetzugang haben, stellt das ICRC die Anfrage ins Netz. Auch Marthe Micheline Hildebrand hofft, dass sie auf diese Weise etwas über das Schicksal ihrer beiden Brüder, ihrer Mutter und ihrer Tante erfahren kann.

Das Lachen fällt schwer

Hildebrands sechsjährige Tochter kommt ins Zimmer, macht Musik an. Sie sagt etwas auf Kreolisch zum Mädchen, dreht sich um und wechselt wieder ins Deutsche. „Nein, Musik kann ich gerade nicht wirklich hören.“ Ihr Kopf ist voll mit anderen Gedanken.

Sie lebt gern in Wien, erzählt sie – obwohl sie vor rassistischen Angriffen nicht verschont geblieben ist. „Ich mache Gott keine Vorwürfe, dass ich schwarz bin. Ich bin sogar froh darüber, denn ich muss kein Geld für das Sonnenstudio ausgeben.“ Sie lacht, aber das Lachen fällt ihr schwer. Zu groß ist die Sorge um ihre Familie, die sie plagt. Zu gern würde sie wissen, wie es in ihrer alten Heimat aussieht.

Bettina Aschenberger kommt gerade von dort – am Montag flog die Marketingmanagerin über die Dominikanische Republik aus Haiti nach Wien zurück. Sie, selbst geboren und aufgewachsen in Haiti, lebt seit mittlerweile 26Jahren in Österreich, besucht jedoch regelmäßig Freunde und Verwandte auf der Karibikinsel. Nach ihren Eindrücken von der Katastrophe will sie nun helfen: „Für mich ist das Entscheidende, was in Haiti nach der Katastrophe weiter passiert.“ Dazu will sie Geld sammeln, um vor Ort helfen zu können – mit einem privaten Konto, das sie gerade erst eröffnet hat. Zugutekommen sollen die Spenden einer Ambulanz in der Gegend von Turgeau in Port-au-Prince: „Die Leute müssen mir glauben, dass das Geld dorthin kommt, wo es benötigt wird.“

(ANIA HAAR „Die Presse“, Print-Ausgabe, 20.01.2010)


Kommentieren Sie den Artikel





Weitere Artikel von Ania Haar