Holocaust-Überlebender Viktor Frankl: „Es gibt keine kollektive Schuld“

Über diese Rede von Viktor Frankl
  • Wann: Am 10. März 1988 vor 35.000 ZuschauerInnen
  • Wo: Auf dem Wiener Rathausplatz
  • Im Rahmen einer Gedenkkundgebung anlässlich des Hitler-Einmarsches vor 50 Jahren.
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04.04.2015 | 21:25 | simon INOU

In den letzten zwei Wochen war der Name Viktor Frankl in aller Munde. Warum? Der Holocaust-Überlebende und Begründer der Logotherapie wäre heuer 110 Jahre alt geworden. Um das Leben dieses großartigen Wissenschaftlers und Menschen zu würdigen, wurden mehrere Veranstaltungen organisiert. In der Redaktion von M-MEDIA wollten wir auf unserer Art Viktor Frankls Vermächtnis feiern. Viktor Frankl hat Wien geliebt. Wir auch.  So sind wir an seiner Rede am Wiener Rathausplatz im Jahre 1988 auf youtube gestossen. Da diese Rede nur Akustisch online zu hören war, haben wir beschlossen diese zu transkribieren und zu publizieren. Die Rede aus dem Jahr 1988 hat ihre Aktualität nicht verloren. Übrigens wurde am Donnerstag, 26. März in Wien das weltweit 1. Viktor Frankl Museum am Alsergrund in der Marianengasse 1 eröffnet. Das Museum steht neben der ehemaligen Wohnung Frankls.

—– Wider die Kollektivschuld —–

Herr Bürgermeister!

Liebe Wiener und Wienerinnen!

Ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich jetzt bitten muss, zu dieser Stunde des Gedenkens gemeinsam mit mir zu gedenken meines Vaters, der im Lager Theresienstadt zugrunde gegangen ist, meines Bruders, der im Lager Auschwitz umgekommen ist, meiner Mutter, die im selben Lager ums Leben umgekommen ist und meine ersten Frau, die im Lager Bergen-Belsen ihr junges Leben hat lassen müssen.

Ich bitte Sie aber darum, von mir nicht zu erwarten auf nur ein einziges Wort des Hasses. Wen sollte ich auch hassen? Ich kannte ja nur die Opfer, aber ich kenne nicht die Täter. Zumindest kenne ich die Täter nicht persönlich, und jemanden nicht persönlich sondern kollektiv schuldig zu sprechen lehne ich strikte ab. (Applaus)

Es gibt keine kollektive Schuld

Es gibt keine kollektive Schuld – und glauben Sie mir –  ich sage das nicht erst heute sondern ich habe das vom ersten Tag  angesagt, an dem ich aus meinem letzten Konzentrationslager befreit wurde. Und ich glaube, dass die Männer und Frauen in Österreich, die heute zwischen 0 und 50 Jahre alt sind kollektiv schuldig zu sprechen, ist ein Verbrechen und ein Wahnsinn. Oder lassen Sie es mich psychiatrisch formulieren: es wäre ein Verbrechen wenn es nicht ein Fall von Wahnsinn wäre. Und dazu noch ein Rückfall in die nationalsozialistische Ideologie der Sippenhaftung.

Da sei gesagt, denen, die glauben sagen zu dürfen, dass man sich schuldig fühlen muss oder auch nur schämen muss, irgendeiner Sache, die man zwar nicht selbst getan, ja nicht einmal selbstunterlassen hat, sondern die, die Eltern oder gar die Großeltern auf ihr Gewissen hatten nehmen müssen (Applaus). Und ich glaube mir sicher zu sein, dass die Opfer ehemaliger kollektiver Verfolgung, die ersten sein sollten und sein werden, die mir da zustimmen, es wäre denn, sie haben es darauf angelegt, die Jugend von heute den alten Nazis oder den Neonazis in die Arme zu treiben. (Applaus).

Widerstand setzt doch allemal voraus Heroismus

Lassen Sie mich bitte für den Moment auf meiner Befreiung zurückkommen. Ich bin im ersten möglichen Transport, wenn auch nur illegal möglichen Transport nach Wien zurückgekehrt, zusammengepfercht mit ein paar anderen Wienern in einem LKW am 15. August 1945. Seither wurde ich 63 Mal nach Amerika berufen, von Universitäten usw. usw. und jedes Mal von diesen 63 Mal bin ich zurückgekehrt nach Österreich. Nicht weil mich die Österreicher gar so geliebt hätten aber weil ich Österreich geliebt habe und Liebe beruht wie ihr ja wisst nicht immer auf Gegenseitigkeit (Applaus). Wann immer ich in Amerika, war fragten mich die Amerikaner „Sagen Sie, Herr Frank, warum sind Sie denn nicht schon vor dem Krieg nicht zu uns gekommen?“ und meine Antwort war die, ich musste denen erklären, ich habe Jahre hindurch auf ein Einreisevisum nach Amerika warten müssen und wie es dann endlich so weit war, da  war es dann auch schon zu spät. Denn ich habe es einfach nicht über mich gebracht, mitten im Krieg, meinen alten Eltern alleine in Wien zurückzulassen und ihrem Schicksal unter den Nationalsozialisten zu überlassen, sondern es lag näher, dass ich diesen Schicksal zu teilen vorgezogen habe. Und dann sagen die Amerikaner: „Gut und schön warum sind Sie dann nicht wenigsten gleich nach dem Krieg zu uns nach Amerika gekommen? Warum sind Sie nach Wien zurück? Haben Ihnen die Wiener zu wenig angetan? Ihnen und den Ihren?“ Dann sage ich den Amerikaner „Schauen Sie, in Wien das hat´s zum Beispiel eine katholische Baronin gegeben und die hat eine Cousine von mir den ganzen Krieg hindurch in ihrer Wohnung als U-Boot versteckt gehalten und so ihr das Leben gerettet. Und als Gegenstück, ein anderes Beispiel. Da gab es einen sozialistischen Rechtsanwalt in Wien. Der hat wann immer er nur konnte, ebenfalls sich selbstgefährdend, mir Lebensmittel zugesteckt. Und dann frage ich die Amerikaner „Sagen Sie mir mal, warum hätte ich in eine Stadt, in der solche Menschen gibt, warum hätte in ein eine solche Stadt nicht zurückkehren wollen?“ (Applaus).

Die Gefahr liegt dort, wo ein politisches System dafür sorgt, dass die negative Auslese einer Nation ans Ruder kommt

Ich weiss ganz genau was Sie sich jetzt sagen werden oder was Sie mir vorhalten werden: „Herr Frankl, schauen Sie, seien wir doch ehrlich, das sind doch bloße Ausnahmen gewesen. Ausnahmen von der Regel und in der Regel waren ja die Leute Opportunisten. Widerstand hätten Sie leisten müssen.“ Und ich muss Ihnen, meine Damen und Herren, Recht geben, aber bitte bedenken Sie doch eines: Widerstand setzt doch allemal voraus Heroismus und Heroismus kann man meiner Absicht nach, eigentlich nur von einem einzigen Menschen verlangen und das ist man selbst. Und diejenigen, die sagen, man hätte sich lieber einsperren sollen, bevor man Kompromisse eingeht oder sich mit den Nazis arrangiert hat usw. vollkommen richtig. Aber eigentlich darf was nur nur jemand sagen, der für seine eigene Person unter Beweis gestellt hat, dass er es vorgezogen hat sich in ein KZ stecken zu lassen, anstatt irgendwie sich selbst und seine Überzeugungen untreu zu werden (Applaus).

Meine Damen und Herren, der Nationalsozialismus hat den Rassenwahn aufgebracht. Aber wenn ich Ihnen verraten darf wie ich darüber denke, dann lautet meine Antwort so: Es gibt eigentlich nur zwei Typen von Menschenrassen und das ist die Rasse der anständigen Menschen und die Rasse der Unanständigen Menschen und die Rassentrennung geht quer hindurch alle Nationen (Applaus) und innerhalb jeder Nation quer hindurch, durch alle Parteien und alle Gruppierungen sonstiger Art. Auch in den Konzentrationslagern ist man hier und da, sogar unter der SS auf den einen oder anderen halbwegs anständigen Kerl gestossen genau sowie umgekehrt auf so manchen Falotten unter den Häftlingen. Gefahr droht ja nur anderswo. Die anständigen Menschen sind in der Minorität, die anständigen Menschen waren immer eine Minorität und werden, glaube ich,  auch immer eine bleiben, aber die Gefahr liegt anderswo.

Die Gefahr liegt dort, wo ein Regime, wo ein politisches System, die unanständige Kerle an die Oberfläche schwemmt und mit anderen Worten dafür sorgt, dass die negative Auslese einer Nation ans Ruder kommt. Das ist die eigentliche Gefahr. (Applaus)

Aber davor meine Damen und Herren ist von vorn herein keine einzige Nation gezeigt und in diesem Sinne wage ich die Behauptung, dass grundsätzlich jeder Nation Holocaust-fähig ist (Applaus). Und was sind die politisch Konsequenzen, die wir aus alledem ziehen dürfen?

Es gibt nur zwei Typen von Politikern

Es gibt meines Erachtens nur zwei Stile von Politik oder lassen Sie mich sagen zwei Typen von Politikern. Die einen das sind diejenigen, die glauben der Zweck heiligt die Mittel. Jedes Mittel, terroristisches eingeschlossen. Während die anderen Politiker sehr wohl sich dessen bewusst bleiben, dass es Mittel gibt, die selbst den heiligsten Zweck zu entweihen vermöchten. Und dieser Typus von Politikern ist es, dem ich auch zutraue, dass er aus all dem Lärm um diese Märztage heraushört die Stimme der Vernunft und heraushört die Forderung des Tages oder besser gesagt dieses Gedenktages und die kann nur lauten, dass alle, die guten Willen sind, endlich einmal die Hände einander entgegen strecken über alle Gräber und alle Gräben hinweg. (Applaus).

Ich danke.

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Erstmals transkribiert von simon INOU, April 2015

 

 

 


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