„Gezi Concert“ in Wien: Gedenken mit Fazil Say und Geschwistern Önder

04.06.2014 | 10:43 | Aysun Bayizitlioglu

Wien. Am 30. Mai inszenierte der türkische Starpianist Fazil Say, mit tatkräftiger Unterstützung seiner begnadeten Kolleginnen Ferhan & Ferzan Önder, ein musikalisches Gedanken an die Gezi Park Proteste von 2013, die am Tag genau vor einem Jahr ihren Anfang nahmen. Unsere Kollegin Aysun Bayizitliogu war für M-MEDIA von der Probe bis zum Konzert dabei. 

“Langsam bricht die Abenddämmerung herein, bestimmt wird dies durch das Mondlicht. Dieses Mondlicht ist nicht das romantische Licht, das wir kennen, vielmehr kündigt es mit dem trüben Licht schlechte Nachrichten an.”, erklärt Fazil Say. Danach spielt “Das Württembergische Philharmonie Orchester Reutlingen” aus Deutschland unter der Leitung seines Chefdirigenten Ola Rudner ein zweites Mal den zweiten Teil von “Night” aus dem Werk “Gezi Park 1”. Ziel ist es, jene Gefühle widerzuspiegeln, die Say in sein Werk gelegt hat. Ausführende sind die Zwillingsschwestern Ferhan& Ferzan Önder (Klavierduo), das Philharmonieorchester aus Reutlingen und der Multipercussionist Martin Gruber mit dem Percussive Planet Ensemble. Das Konzert für zwei Klaviere und Orchester komponierte er für das türkischstämmige Schwesternpaar Önder. In dieser Sonate verarbeitete Say seine Gefühle der Gezi Park-Proteste in Istanbul. Beim dritten Teil der Sonate “Police Raid” fragt der Dirigent Rudner fast bei jedem Taktschlag bei Say nach: “Klingt es so, wie Du es haben möchtest, Fazil? Auf welche Betonung ist hier zu achten?” “Noch kräftiger und schärfer, manche verwerfen, manche treffen…euer Anschlag muss das fühlen lassen” antwortet Say. Das Resultat ist gespenstisch: Man hört förmlich die Polizeisirenen und die Wasserwerfer. Danach wird Fay’s Sonate “Gezi Park 2” geprobt. Wären da nicht gewisse Nebengeräusche, könnte man meinen, tatsächlich auf dem Taksim Platz im Gezi Park zu sein.

“So geht das nicht”, sagt plötzlich Say. “Wenn ich hier spiele, kann ich von jenen, die in den ersten fünf Reihen auf der rechten Seite sitzen, nicht gesehen werden. Das Piano muss mindestens einen Meter weiter nach rechts!” Die Mezzosopranistin Sanem Demircioglu sing die “Sardunyaya Agit” (die Trauer der Geranie-eine Komposition des türkischen Dichters Can Yücel aus First Song). Allerdings wünscht sich Say noch etwas mehr Gefühlsausdruck in der Gestik der Sängerin. Es verspricht ein spannender Abend zu werden.

Während wir die Vereinsvorsitzende Neslihan Turan-Berger vom “Kultur- und Bildungsinstitut BOSPORUS”, welche das Konzert organisiert hat, suchen, werden wir Zeugen von Geschäftigkeit und Hektik fernab vom Bühnengeschehen: Neben der “Roten Bar”, wo vor dem Konzert die Pressekonferenz stattfinden wird, wird auch schon das technische Equipment für die Videopräsentationen “Witnessing Gezi” und “Insan Insan (=Mensch Mensch)” getroffen. Turan-Berger die gerade dabei ist, eine Unterkunft für vier Journalisten aus der Türkei zu organisieren, ist bereit, uns nebenbei zusammen mit den Önder-Schwestern ein Interview zu geben: “Das Gezi-Konzert wurde von vier Frauen, die alle schon Mal in verschiedenen Bereichen für den MIA-Award nominiert waren, organisiert.” Ferzan und Ferhan Önder sind zwei ihnen: “Wir wollten am 30. Mai 2014, dem Jahrestag der Gezi-Bewegung, ein Konzert für Frieden und Brüderlichkeit veranstalten. Als wir diesen Vorschlag unserem langjährigen Freund Fazil Say unterbreiteten, hat er sofort mit Freude zugesagt. Unser Ziel war es eigentlich, ein Konzert im Freien, in einem großen Park zu organisieren. Für Menschen aller Altergruppen und sozialen Schichten. So wie es bei der Gezi-Bewegung war. Dort waren sie alle präsent: Frauen und Männer, Junge und Alte, Arbeiter und Akademiker, Türken, Aleviten, Kurden…und demonstrierten für Freundschaft, Brüderlichkeit, Umweltschutz und schließlich Freiheit und Demokratie.”

Für die Zwillingsschwestern hat dieses Konzert eine besondere Bedeutung. Es ist das erste Konzert, das sie mitorganisieren und bei dem sie auch selbst auftreten. Die Organisation nahm eineinhalb Monate in Anspruch und war nicht immer einfach. “Leider gab es auch empfindliche Rückschläge. So haben wir zum Beispiel Gelder, die uns von türkischen Firmen zugesagt worden waren, nicht erhalten, da sie wahscheinlich Angst von der Regierung haben” sagt Ferhan. “Die größten Unterstützer, waren unsere engsten Angehörigen und Freunde. Wie zum Beispiel der Ehemann von Ferzan, Martin Grubinger” ergänzt Ferhan und Ferzan fährt weiter fort: “Er wird das “The Percussive Planet Ensemble – Martin Grubinger” ehrenamtlich dirigieren. Und er wird natürlich viele seiner jungen Anhänger ins Konzert locken.” Alle drei Interviewten bedauern sehr, dass es mangels ausreichender finanzieller Unterstützung leider nicht möglich war, das Konzert im Freien zu organisieren, obwohl auch die Geschwister Önder, Fazil Say und der Dirigent Ola Rudner auf eine Gage verzichteten – und das Orchester aus Reutlingen nur ein sehr geringes Honorar beanspruchte. Sie hoffen jedoch, dass es in Zukunft ein Konzert im Freien geben wird. Abschließend erwähnt Turan-Berger: “Wichtig ist, dass die Einnahmen aus diesem Konzert für die Familien von Opfern bzw. Verletzten der Gezi-Bewegung bestimmt sind.”

Zweieinhalb Stunden vor Konzertbeginn, startet im Anschluss an den Film “Witnessing Gezi” die Pressekonferenz mit der Vorsitzenden des Vereins “Reporter ohne Grenzen”, Rubina Möhring. Es gibt ein großes Interesse von ÖsterreicherInnen und türkisch stämmigen MitbürgerInnen. Die Fragen “Freiheit, Friede, Demokratie”, “Was ist der Grund weshalb die Türkei von der EU weggedriftet ist und die EU auf die Türkei verzichtet?”, “In der Türkei gehen die jungen Menschen wegen Freiheit und Demokratie auf die Straße, während sie in Europa nicht gegen rechte Gesinnung und Rassismus demonstrieren – weshalb?, erregen die Gemüter. Humorvolle Beiträge des türkischen Journalisten Yekta Kopan und der Moderatorin Möhring können besänftigen. Zum Abschluss der Konferenz erklären die türkischen Journalisten, dass es absolut keinen Zusammenhang und auch keinerlei Ähnlichkeit der Gezi-Bewegung mit dem Arabischen Frühling gibt.

Am Ende der Filmvorführungen, die die Gezi-Bewegung verdeutlichen, steht Michael Kerbler, der Ex-ORF-Moderator mit Fazil Say auf der Bühne und sagt zum Publikum: “Dieses Gezi ist ein anderes Gezi und dieses Gezi Konzert ist sicher eines von den ausergewöhnlichsten und vielseigsten Konzerten, die das Wiener Volkstheater erlebt und präsentiert haben wird.“ Den Grund, weshalb er mit der Gezi Bewegung mitempfindet, erklärt Say danach so: “Während der Gezi-Demonstrationen vor einem Jahr gab es 8 Tote, 8.000 Verletzte und 5.000 Verhaftete!” Zum Erfolg der Gezi Sonaten meint Say, dass dieser nicht wegen der schönen Musik, sondern wegen der erzählenden Musik zu verzeichnen ist.

“Der zweite Teil von Gezi Park 1 erzählt von den Polizeisirenen und dem Durcheinander auf dem Taksim Platz”, sagten die Geschwister Önder während des Interviews. Mit langsamen Musikklängen widmet sich der letzte Teil dem Auseinandergehen der Menschenmenge und der Flucht von zwei Geschwistern in die Seitengassen des Taksimplatzes. Sie flüchten, haben aber die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Das Licht der Hoffnung, dass plötzlich auf sie fällt, lässt sie nochmals zurückblicken und gibt ihnen das Gefühl, dass es eines Tages auch in ihrer Welt Demokratie geben können wird. “Der letzte Teil handelt von Hoffnungslosigkeit und von erneut aufkeimender Hoffnung”, sagt Say. Während des Konzerts, erfährt man, wie die Worte von Say in den Hintergrund treten und die Stärke des Musikklanges dominiert.

Gezi Park 2 handelt vom Widerstand auf Istanbuls Straßen, von Gaswolken und vom Tod des 15- jährigen Berkin. Dieser Junge wird zum Symbol für alle Toten und Verletzten auf dem Taksimplatz. Der gesamte dritte Teil ist allein Berkin gewidmet. Der vierte Teil handelt von der Hoffnung, die niemals stirbt. Im letzten Teil spielt nur der Pianist Say ohne Orchester.

Als Konzertabschluss interpretieren die Mezosopranistin Demircioglu, Say, die Geschwister Önder und das Orchester Reutlingen gemeinsam das Lied “Insan Insan”, eine Komposition des türkischen Dichters Muhyiddin Abdal. Das Publikum singt begeistert mit. Am Schluss ertönt es aus dem Publikum: “Überall ist Gezi, überall ist Widerstand”!

Den türkischen Starkomponisten kann das Wiener Publikum demnächst in der Konstellation „Fazil Say & Friends“ am 13. Juni im Wiener Konzerthaus erleben (M-MEDIA berichtete). 


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