Bulgarien:„500 Jahre Osmanenbelagerung sind genug.“

20.11.2013 | 13:22 | simon INOU

Seit 159 Tagen protestieren BulgarInnen jeden Tag und vorwiegend am Abend gegen die aktuelle Mitte-Links Regierung des parteilosen Premiers Plamen Orescharski. Diesen DemonstrantInnen zufolge ist die aktuelle politische Klasse in festen Griffen von Mafiosi und Oligarchen, die in der Tat das Land regieren. Eine Reportage von simon INOU aus Sofia und Plowdiw.

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Sofia, 18. November 2013 – Heute früh ist es 11h00. Die pulsierende Stadt ist seit mindestens sechs Stunden wach. Sofia, die Hauptstadt von Bulgarien, ist eine Metropole von 1,2 Millionen EinwohnerInnen in einem Land von 7,36 Millionen Menschen verteilt auf 111.000 Quadratkilometer.  Es ist sonnig aber kalt. Wir haben gerade 8 Grad Celsius.

Diese Kälte ist für den 33-jährigen Tsvetozar Valkov, das Gesicht – und nicht der Anführer wie er sagt –  der bulgarischen Protestbewegung, und seine engagierte Truppe kein Grund nichts zu unternehmen. Der Infotisch in der Zentrale der Protestbewegung ist schon gerichtet. Warmer Tee bzw. Kaffee wird getrunken und natürlich wird viel diskutiert und telefoniert. Das Hauptquartier der Protestbewegung ist an einem sehr wichtigen politischen Ort aufgebaut. Gegenüber vom Parlament und rechts vor dem Monument von Zar Alexander II., dem „Befreierzaren“, wie er hier genannt wird. Unter seiner Führung beendeten er, seine Armee und die Bevölkerung Bulgariens am 3. März 1878 die fünfhundert Jahre Herrschaft der Osmanen und schufen die Grundlage für das heutige Land. Für Tsvetozar Valkov ist diese Zentrale nicht nur ein Koordinationsbüro der Protestaktionen, sondern „das richtige Parlament, weil wir sind das Volk und nicht die, die gegenüber sitzen“, betont er stolz.

Warum die BulgarInnen protestieren, bis wann und mit welchen Methoden kann er klar beantworten: „Unsere Methode ist eine friedliche, wir orientieren uns an den Prinzipien von Mahatma Gandhi und Martin Luther King: Gewaltlosigkeit mit einer starken Einbindung von aktionistischer Kunst, um der Brutalität der Sicherheitskräfte entgegen zu wirken. Was wir wollen ist klar: Diese Regierung muss zurücktreten. Alle sind korrupt, sind nur Marionetten von Konzernen und betreiben Vetternwirtschaft. Sie repräsentieren nicht das Volk, arbeiten nicht für unser Land, sondern nur für die eigenen persönlichen Interessen.“

Skepsis herrscht auch in der Bevölkerung: ob diese Protestaktionen zu irgendetwas Positivem führen werden, sei unklar, so die Meinung einer Bulgarin, die aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden will. „Die, die protestieren, wollen, dass diese Regierung zurücktritt, haben aber keine reale Alternative. weil dieselbe Nomenklatura an die Macht kommen wird bzw. an der Macht bleiben wird“, sagt sie. Derartiger Skepsis begegnet Tsvetozar Valkov mit langfristigen Plänen: Er sieht die Ausbildung einer unabhängigen Plattform aller gesellschaftlichen Schichten vor, die die  Korruptionsaffären der letzten 25 Jahren untersuchen soll und zu einer „Operation Clean Hands“ führen soll. Danach sollen rechtliche Möglichkeiten geschaffen werden, um Bulgarien von korrupten PolitikerInnen zu befreien. Damit dies geschieht, werden, so Valkov, Unterschriften im ganzen Land gesammelt, die zu einem Referendum führen sollen.

Auch in Plowdiw, der zweitgrößten Stadt Bulgariens, werden eifrig Unterschriften gesammelt. Am Anfang der Fußgängerzone in der Knyaz Alexander I. Strasse, im touristischen Zentrum der Stadt gibt es einen Infostand der Protestbewegung. Eine Frau und zwei Herren sind hier aktiv. Sie verteilen Flyer, reden mit PassantInnen und versuchen die Unentschlossenen zu überzeugen, die Petition zu unterschreiben. Im Hintergrund des Infostands hängen mehrere Transparente und Plakate, die auf die Korruption im Lande, aber auch auf das Marionettendasein der bulgarischen PolitikerInnen hinweisen. Auf meine englischen Fragen bekomme ich eine Antwort von einem sehr alten, physisch schwachen und geistig wachen Herrn – etwa um die 80 – der in Neuseeland gelebt hat und vor ein paar Jahren nach Bulgarien zurückgekehrt ist. Er schimpft auf Russland und will nicht mehr, dass das Land Putins sich in die heimischen Angelegenheiten einmischt. Er meint damit die Energieabhängigkeit Bulgariens von Russland. Die im September 2013 erschienene Studie der Konrad Adenauer Stiftung „Energiepolitik und Energiewirtschaft in Bulgarien“ bestätigt seinen Zorn: „Jahrzehntelang war Bulgarien stark von Energierohstoffen abhängig, die von einem einzigen Land – Russland – geliefert wurden. Das Land hängt zu 100 % von russischer Atomtechnologie (AKW Kosloduj, 2 aktive Blöcke) und russischem Kernbrennstoff (von TWEL Russland) ab, ist zu 100 % abhängig von russischem Erdöl für die Raffinerie Lukoil in Burgas, zu 85 % von Erdgas, geliefert durch Gasprom, und von Kokskohle aus der Ukraine und Russland. Das Streben nach Verringerung dieser Abhängigkeit stößt auf hartnäckigen Widerstand durch die BSP (Sozialisten) und die mit dieser Partei verbundene Energielobby. Jede von der BSP geführte Regierung ist bestrebt, diese Abhängigkeit zu steigern.“[1] Aber der alte Herr gibt sich sehr kämpferisch und glaubt noch immer daran, mit seinem Engagement sein Land in eine besseren Richtung zu lenken.

Mit Russland verbindet Bulgarien eine sehr ambivalente Beziehung. Auf der einen Seite hat Russland Bulgarien von den Osmanen befreit. In Sofia rund um das Parlament stehen zwei orthodoxe Kirchen mit russischem Hintergrund: Genau hinter dem  Parlament steht die größte, die Alexander-Newski-Kathedrale mit ihren goldenen Kuppeln, erbaut zwischen 1904 und 1912 zu Ehren des Zaren Alexander II., der Bulgarien 1878 von den Osmanen befreit hatte. Die zweite ist die russisch-orthodoxe Kirche „Sveti Nikolay“ (Nikolaienkirche). Sie befindet sich 500m links vom Parlament an der Kreuzung der Rakovski-Straße und des Zar-Osvoboditel-Boulevards. Auf der anderen Seite beutet Russland, laut der Meinung vieler BulgarInnen, ihr Land aus und unterstützt vorwiegend im Energiebereich mafiöse Strukturen, die dem Land schaden. Dieser Zustand ist für viele nicht mehr tragbar und akzeptabel.

Im Medienbereich findet man ein Monopol vor: Wenn in Bulgarien von Zeitungen die Rede ist, fällt der Name Deljan Peewski sehr oft. Der 33-Jährige ist eine sehr umstrittene Persönlichkeit. Seine Mutter Irena Angelowa Krastewa besitzt die im Jahre 2007 gegründete Neue Bulgarische Mediengruppe. Zu ihr gehören das auflagenstärkste Boulevardblatt, Telegraf, Zeitungen und Zeitschriften, Online-Dienste, ein Fernsehsender, eine Pressevertriebsgesellschaft und die größte Druckerei des Landes. Auf die Frage, ob es unabhängige Medien in Bulgarien gäbe, antwortet Filmemacherin Maria Averina mit einem „Ja, aber“. In diesem Land von fast 7,36 Millionen Menschen gibt es noch JournalistInnen und Medien, die sich als unabhängig bezeichnen. Maria nennt zum Beispiel das Online Informationsportal www.offnews.bg, das vom investigativen Journalisten Vladimir Jonchev, einem ehemaligen Chefredakteur des angesehenen Medium STANDART, der sich dort nicht frei genug fühlte, gegründet wurde. Auch Tsvetozar Valkov bestätigt diese Beobachtung und fügt hinzu, dass es auch wirtschaftsliberale Zeitungen wie www.dnevnik.bg gäbe, die gemäßigt unabhängiger berichten.

Vor vier Wochen haben sich der StudententInnen die Protestbewegung angeschlossen. Sie fordern den sofortigen Rücktritt der jetzigen Regierung, Neuwahlen und umfassende politische Reformen für die junge Generation. An der Hauptuniversität von Sofia treffen wir den jungen Studenten Kristian Ivanov. Er ist voll beschäftigt mit der Vorbereitung einer Studentenversammlung in der Räumlichkeit der Occupy University Bewegung. Auf meine Frage, warum er protestiere, fügt er den oben genannten Gründen den für ihn wichtigsten hinzu: „Ich will in Bulgarien studieren, arbeiten und meine Kinder hier erziehen und deshalb brauchen wir zukunftsorientierte PolitikerInnen, die an das Land denken und nicht nur an ihre partikularen Interessen. Hier geht es um die eigene Befreiung und die eigene Gestaltungskraft und Unabhängigkeit“. Der Austro-Bulgare Theo Marin, der in der Protestbewegung als deutschsprachiger Übersetzer und Historiker sehr aktiv ist, fasst es so zusammen: „500 Jahre Osmanenbelagerung, 50 Jahre Kommunismus und 25 Jahre Mafia sind genug. Wir wollen eine neue Geschichte unseres Landes schreiben.“

 


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