Wien als Endstation des Schweigens

AUF EINEN BLICK
  • Seit 1994 bietet die Hilfsorganisation „Esra“ Beratung und Betreuung von Menschen an, die allein nicht in der Lage sind, die Folgen des während der Verfolgung und auf ihrer Flucht Erlebten zu verarbeiten. 50 Helfer der Organisation stehen Opfern zur Seite, sieben sind Ärzte. Allein im Vorjahr wurden 2700 Opfer behandelt, 42.000 Personen haben Esra kontaktiert. Die Zahl der Kontakte hat sich seit Bestehen von Esra beinahe verzehnfacht.
  • Die Opfer leiden nach wie vor am Vernichtungsfeldzug, den die Nationalsozialisten entfacht hatten, aber auch an der Verfolgung durch andere Regierungen späterer Jahrzehnte. Kontakt: 1020 Wien, Tempelgasse 5

15.10.2008 | 17:24 | Ida Labudovic

„Esra“ betreut tausende Menschen, die durch Flucht und Holocaust schwer traumatisiert sind.

WIEN. Ein Jugendstilsessel, daneben eine Couch und eine Palme, sogar Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg ins Zimmer. Trotzdem kommen hier, in Wien-Leopoldstadt, kaum Gefühle von Entspannung auf. Im Gegenteil: Meist sind Einsamkeit und Depression die vorherrschenden Gemütszustände.

Das Zimmer ist in der Beratungsstelle „Esra“ eingerichtet, und die geschilderten Gefühle kommen nicht von ungefähr: Denn Esra berät Menschen, die der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entkommen, oder andere, die durch politische Verfolgung und ihre Flucht traumatisiert sind.

„Es gibt eine georgische Familie, die ich gerade behandle“, berichtet David Vyssoki. Er ist ärztlicher Leiter von Esra, das im Hebräischen „Hilfe“ bedeutet. Vyssoki und die sechs anderen Ärzte der Organisation – Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten – erleben beinahe täglich, wie dringend notwendig ihre Hilfe ist.

Flucht nach Österreich

„Der Mann und seine Frau waren prominente Mitglieder einer Oppositionsgruppe.“ Aus dem kaukasischen Land war zunächst die Frau mit den beiden erwachsenen Söhnen geflüchtet, bereits vor Jahren. Während die Frau in Wien blieb, flüchteten die beiden Männer weiter, zunächst mit unbekanntem Ziel. Ein Jahr nach dem Eintreffen der Frau in Wien gelang es auch dem Mann, sich nach Österreich durchzuschlagen. Mit ihm kamen die beiden Töchter, die eine damals 21, die andere 13.

Mittlerweile sind die Mitglieder der georgischen Familie wieder vereint. Aber obwohl sie nun in Sicherheit leben und die Zeiten existenzieller Angst Jahre her sind, laborieren sie nach wie vor an den Folgen. Sie sind schwer traumatisiert. Der älteste Sohn hat einen Suizidversuch hinter sich. Vyssokis Diagnose: „Bis jetzt habe ich nie eine so schwer traumatisierte Familie mit kumulativen Traumata gesehen.“

Fälle wie dieser sind keine Seltenheit. Insgesamt 50 Betreuer von Esra kümmern sich um eine ständig steigende Zahl von Personen, die mit den Umständen ihrer Flucht und dem Erlebten in ihren Herkunftsländern allein nicht zurechtkommen.

Am Leben – mit Schuldgefühlen

Derzeit bekommen 2700 Menschen von den 50 Mitarbeitern der Organisation Hilfe in Form einer Behandlung, insgesamt wurden im Vorjahr nicht weniger als 42.000 Kontakte gezählt. Einige 100 von ihnen leiden an den Folgen des Holocaust – entweder direkt als Opfer oder als Nachkommen dieser Generation.

Viele haben noch nie zuvor über ihre traumatischen Erlebnisse gesprochen und brechen erstmals in Wien ihr Schweigen. Dieses Schweigen ist einerseits Selbstschutz, um nicht von Schmerz, Trauer und Aggression überwältigt zu werden. Es bewirkt zudem, dass die Wahrnehmung der Realität verfälscht wird – ja teilweise verfälscht werden muss. Andererseits dient das Schweigen dem Schutz der eigenen Kinder. Viele der Holocaust-Überlebenden leiden auch darunter, noch am Leben zu sein, während andere, oft sehr nahestehende Menschen, ermordet worden sind. Primo Levi, Schriftsteller und Philosoph, bezeichnet dies als „Überlebensschuld“.

Der Wille, hier zu helfen und polytraumatisierten Menschen wieder auf die Füße zu helfen, stand 1994 am Anfang der Geschichte von Esra. Damals bekam das Thema eine zusätzliche Brisanz, nachdem die Zahl Betroffener in den 1980er-Jahren in die Höhe geschnellt war. In jenen Jahren waren vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion tausende jüdische Zuwanderer in Wien angekommen.

Wichtig ist die Muttersprache

„Wir wollten Sozialarbeit und medizinische sowie psychotherapeutische Leistungen anbieten“, erinnert sich Esra-Geschäftsführer Peter Schwarz. „Die Gemeinde Wien hat sehr positiv reagiert und dieses Projekt von Anfang an unterstützt.“

Esra wird von mehreren Seiten finanziert: Zwei Drittel des Budgets kommen vom Fonds Soziales Wien, der Rest wird von der Israelitischen Kultusgemeinde, verschiedenen Krankenkassen und Stiftungen finanziert. Dazu kommen noch Spenden sowie für einzelne Projekte Mittel des Nationalfonds der Republik Österreich.

Gerda Netopil, die den Bereich soziale Arbeit leitet, streicht noch heraus, dass die psychische Situation verschlechtert werde, wenn die Lebensbasis und die Existenz nicht gesichert sind.

Als wesentliches Element hat sich auch herausgestellt, dass die Hilfesuchenden in vielen Fällen in ihrer Muttersprache betreut werden können. Möglich ist dies derzeit in Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Hebräisch, Italienisch, Polnisch, Serbisch und Kroatisch.

(IDA LABUDOVIC, „Die Presse“, Print-Ausgabe, 15.10.2008)


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